Morgens, auf meinem Schulweg, gehe ich manchmal am Marktplatz in der Innenstadt vorbei.
Von Zeit zu Zeit kann ich dort ein blaues Fahrzeug ausmachen, ein kaum glänzender Audi mit einem Sticker innen an der Heckscheibe angebracht. Der Aufkleber ist ein grüner Kreis, mit arabischen Wörtern um den Rand. Im Zentrum prangt, auf hellerem Hintergrund ein Emblem aus zwei gekreuzten Sturmgewehren – höchstwahrscheinlich Kalashnikovs (obwohl es wegen des Laufs auch H&K Waffen sein könnten, das wäre allerdings skurril). Das Fahrzeug gehört einem der Marktverkäufer. Der Anblick des Zeichens schickt jedes Mal einen kalten Blitz meine Wirbelsäule hinunter. Eine eindringliche Metapher für Jihad. Doch ist das wirklich was es zu sein scheint?
Almujadilah - 3. Dez, 10:53
Der Islam ist für den Gläubigen integraler Bestandteil des täglichen Lebens. Die Hingabe - was mir persönlich als Übersetzung für "islam" schöner erscheint als Unterwerfung – an Allah durchdringt jeden Aspekt der menschlichen Existenz. Deshalb ist auch eine Reform des Glaubens so schwer möglich – jede Veränderung bringt angebliche Blasphemie mit sich, jede Ablehnung eines konfliktbeladenen Punktes wird gleichgesetzt mit Leugnung des gesamten Gefüges. Und Abkehr von Glauben bedeutet, nicht das Paradies erreichen zu können. (Demzufolge, da ein solches Verhalten schädlich für die Gemeinschaft ist, rechtfertigt man menschengemachte Justiz.)
Doch mittlerweile fühlt es sich für mich so an, als gäbe es zu viel Religion in meinem Leben. Überzeugte Atheisten sollten ihren momentanen Hoffnungsschimmer ignorieren, denn ich meine es anders, als es zuerst klingt.
Es vergeht naturgemäß kein Tag, an dem ich nicht an Gott denke, den Qur'an lese usw.
Aber zusätzlich beschäftige ich mich ständig mit politischen und sozialen Konflikten.
Jede Explosion auf CNN erinnert mich an die Bomben in meiner Kindheit.
Jede Aufnahme von qur'an- und bannerschwenkenden Demonstranten ruft Assoziationen mit den vielen Dokumentarfilmen über das Dritte Reich hervor.
Jede latent verfassungsfeindliche Schrift, die ich (auszugsweise) lesen kann, lässt mich mehr in Betracht ziehen, eine Psychologin zu besuchen.
Dieses deprimierende Hobby hat meinen Blick vollkommen verändert, wenn auch nicht meine Ideologie, meinen Fokus erweitert. Ich habe vollkommen andere Gedanken, wenn ich heute eine(n) Muslim(a) sehe.
Ich führe umfangreiche Selbstexperimente durch.* (Vielleicht sollte ich Soziologin werden.) Ich trage einige Male eine Burqa in der Innenstadt (ich wurde von mitleidigen Feministinnen angesprochen, und ein alter Mann beschwerte sich lauthals über „diese Türken“), wurde wegen eines Niqabs (Gesichtsschleier) aus einem Restaurant gebeten (Vermummungsverbot?), habe meinerseits Musliminnen angesprochen und sie versucht zu befragen (häufig mangels Türkischkenntnissen zwecklos).
Politisierung ist gefährlich. Sie führt zur Überbewertung bestimmter Situationen.
*Ich bitte euch, mir nicht Sensationsstreben, das halbherzige Nachvollziehen der Leiden der wirklich unterdrückten Frauen (weil ich es mir "leisten kann") oder die falsche Einstellung zu unterstellen.
Almujadilah - 3. Dez, 10:04