Donnerstag, 6. September 2007

Nachtblumen

Natürlich gehen auch muslimische Ehepaare Essen. Und natürlich, da auch wir keine erwachsenen Kinder zur Welt bringen, braucht man dann einen Babysitter für die Kleinen.

Viele wünschen sich ja einen Sohn als Erstgeborenen. Aber das ist sehr unökonomisch, ja ineffizient gedacht. Töchter sind viel praktischer, im buchstäblichen Sinne. Die Mutter hat eine Haushaltshilfe, und man(n) muss nicht mehr auf Polygamie zurückgreifen, wenn die Frau jemand zum Reden oder zur Unterstützung möchte.

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Wenn man dann nun klugerweise eine älteste Tochter hat, steht den Ausgeh-Plänen nichts im Weg.

Klein-Leyla ist eigentlich ein sehr unkompliziertes Kind, wie auch meine anderen Geschwister. Rasheed sitzt den ganzen Tag auf dem Bett, liest (populär)wissenschaftliche Physikbücher und macht dabei ein unglaublich ernstes Gesicht für einen Zwölfjährigen, ich nehme an er wird einmal Teilchenphysiker, während Faysal - wunderbar pubertäre 14 - am liebsten Computer spielt. Ich fürchte, der damit verbrauchte Strom wird der größte Posten auf der Nebenkostenabrechnung sein.

Der Wetterbericht ist gerade zu Ende und ich beschließe, einmal nach dem Rechten zu sehen.

Leyla, mit der ich ein Zimmer teile, sitzt über ein Buch gebeugt auf dem Boden. Erstaunlicherweise trägt sie bereits einen Schlafanzug. Sie scheint die selben Gene wie ich geerbt zu haben, denn ihr kommt jegliches Temperaturempfinden abhanden. Das ist aber sehr gut, denn so brauchen wir mein Zimmer kaum zu heizen. Andererseits hat sie einen extrem niedrigen Blutdruck, so dass ich sie schon manchmal morgens neben ihrem Bett gefunden habe. Sie sollte einfach nicht so schnell aufstehen, das sage ich ihr jedes Mal. Sie kommt, was das Lesen betrifft, nach ihrem älteren Bruder. Moment einmal...Was kann ein Vorschulkind schon lesen? Anscheinend hat Leyla das selbst bemerkt, denn sie schaut mich verzweifelt an. Selbst schuld, wenn sie versucht, Effi Briest zu lesen, meine aktuelle Schullektüre. Also gehe ich mit ihr noch einmal die Buchstaben durch, wir lesen gemeinsam einige Seiten eines vollkommen sinnlosen Kinderbuches. Als Baby hat sie die ganze Zeit geschrieen, vielleicht hat ihr die Fahrt von England nicht gut getan, ich weiß es nicht.
Ich werde schon müde, wenn ich an diese Episode denke. Auch Leyla, deren Name Nachtblume bedeutet, was den Titel des Beitrages erklärt, fallen die Augen zu und ich muss das dünne Kind wieder einmal ins Bett tragen. Ich glaube nicht, dass ich dem Alter auch aussah wie ein Kriegsflüchtling. Hoffentlich nimmt sie bald etwas zu, wählerisch beim Essen ist sie ja nicht.

Aus Faysals Zimmer dringen lautere Geräusche. Ein Computerspiel, wie konnte es anders sein. Nur handelt es sich nicht um ein harmloseres Strategiespiel, sondern um einen Shooter. Einige muslimische Experten verdammen Fernseher und Computer als Portale für die teuflischen Jinns. Als auf dem Bildschirm meines Bruders wieder Blut aufspritzt, bin ich sogar geneigt ihnen zu glauben.
"Wie lange willst du noch spielen?" frage ich ihn, in einem Versuch versöhnlich zu sein. Es fuktioniert wider Erwarten, er wird nicht agressiv.
Möglicherweise reicht ja das Aggressionspotenzial des Spiels. Oder er ist zu abgelenkt um zu diskutieren.
"Bis ich müde bin." Ich höre Erschöpfung aus seiner Stimme. Ego-Shooter sollen bei Chirurgen die Feinkoordination verbessern, heißt es. Faysal wird allerdings wohl kein Arzt.
"Wie heißt das Spiel?"
"Call of Duty" Beruhigend. Ohne Jugendfreigabe: Noch nicht mal ich könnte es regulär kaufen. Nicht, dass ich das Bedürfnis hätte.
"Es ist ab 18, stimmts? Glaubst du wirklich, du solltest diese Menschen virtuell erschießen?" Er murmelt was von einem Auftrag.
"Und wer hat dir diesen Auftrag erteilt? Ein fiktiver General. Möchtest du ein Söldner sein, Faysal? Möchtest du im Dreck liegen und Menschen abknallen? Was denkst du, was die Soldaten im Libanon gemacht haben, im Irak, du weißt es!"
Er dreht sich herum, sieht mich mit großen Augen an. Es ist wunderbar, dass er Respekt vor seiner großen Schwester hat.
"Aber was sagt Allah dir? Frieden, befiehlt er!" Ich bin zu müde, um irgendwelche Suren zu zitieren ("Wer einen Menschen tötet, dann ist das wie das Töten der gesamten Menschheit").
Faysals Augen weiten sich noch mehr. Er dreht sich wieder zum Bildschirm, doch anstatt weiterzuschießen, beendet er das Programm.
"Ich werde um Vergebung bitten."
"Ja, das solltest du wohl. Vergiss nicht, deinen Freund mit einzuschließen, der dir das Spiel geliehen hat. Und wasch dir die Hände."

Als ich mich umblicke, sehe ich Rasheed auf seinem Bett tief und fest schlafen, ein Buch aufgeschlagen auf seinem Bauch. Es ist fast ein Wunder, dass er bei dem Lärm schlafen kann.

Es ist so einfach. Manchmal aber auch nicht.

Underneath the Veil

Denken und Glauben

Wo Verstand ist, da braucht es nicht viele Worte

Nicht jeder, der einen Bart trägt, ist schon ein Weiser. (arab. Sprichwort)

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